Am Sommerfest in Mümliswil bot sich ein Bild für die Geschichtsbücher: das grösste Treffen aller Zeiten von Opfern fürsorgerischer Zwangsmassnahmen. 800 Menschen waren gekommen und genossen das Beisammensein.

Ein Tag, der in Erinnerung bleiben wird: Am Samstag, 30. Juni 2018, folgten 800 Menschen der Einladung der Guido Fluri Stiftung und des «Erzählbistro» zum grossen Sommerfest in Mümliswil. Es war das grösste Treffen aller Zeiten von ehemaligen Heim- und Verdingkindern sowie Opfern von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen.

Vor fünf Jahren, anlässlich der Eröffnung der ersten Nationalen Gedenkstätte für Heim- und Verdingkinder, waren lediglich 80 Betroffene erschienen. Dass in diesem Jahr 800 Personen waren, zeigte für Guido Fluri, dem Urheber der Wiedergutmachungsinitiative, dass sich in der Schweiz etwas bewegt hat – das Unrecht ist öffentlich anerkannt und es gibt für Betroffene ein neues Selbstverständnis, mit ihrer Geschichte in die Öffentlichkeit zu treten und sich mit anderen, denen ähnliches widerfahren ist, zu treffen.

Guido Fluri zeigte sich sichtlich berührt und beeindruckt von der Kraft der Betroffenen: «Mich mit den Gästen des Sommerfests zu unterhalten, ihre Geschichten zu hören und ein Teil von ihnen zu sein, erfüllte mich mit riesiger Dankbarkeit. In meiner Rede brachte ich ebenso meine Bewunderung zum Ausdruck: „Seien Sie stolz auf sich, Sie haben es geschafft – trotz der menschenunwürdigen Praktiken, welche sie ein Leben lang begleitet haben; Sie haben es geschafft, man wird sie nicht vergessen!“ Wichtig war mir auch, mit einem Moment der Stille denjenigen Menschen zu gedenken, die diesen Tag nicht mehr erleben konnten. Viele Betroffene sind verstorben oder an der seelischen Last zerbrochen.»

In einer kurzen Rede stellte Urs Allemann-Caflisch das Projekt «Erzählbistro» vor. Das «Erzählbistro» wolle dahin wirken, dass die Betroffenen die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte beginnen könnten, so Urs Allemann: «Wir möchten mit dem Erzählen und diesen Fragen nicht nur in der Vergangenheit stecken bleiben und sie neu aufwühlen, sondern vielmehr vorwärts blicken, in die Zukunft schauen. Denn dass wir uns gegenseitig erzählen, soll auch dazu beitragen, dass die gleichen Vernachlässigungen und Missetaten sich nicht wiederholen.» Für Oktober wird mit einer kleinen ein erstes Erzählkaffee in Bern geplant. Ein zweites grosses Treffen wird für Dezember an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten vorbereitet, so Urs Allemann, der Initiant des «Erzählbistro».

Mit einem reichhaltigen Brunch und Musik, mit vielen Begegnungen und Gesprächen und Verabredungen ging das Programm weiter. Ein besonderer Shuttle-Dienst war für den Besuch der Nationalen Gedenkstätte eingerichtet. Mehrere verschiedene Gruppen von insgesamt gegen hundert französisch sprechenden Teilnehmenden repräsentierten die Westschweiz. An einem Tisch hatten gehörlose Betroffene Platz genommen, denen eine Dolmetscherin die Reden und Ankündigung in Gebärdensprache übersetzte, später auch die Einzelgespräche der Gehörlosen mit anderen Teilnehmenden.

Auch in Zukunft soll es ein Sommerfest geben, bei dem sich die Betroffenen treffen und über ihre Geschichten sprechen können.