Rechtzeitig zum Frühlingsanfang sind 40 Betroffene in Winterthur zusammengekommen. Sie erzählten am Vormittag vom Erlebten und experimentierten am Nachmittag mit neuen kreativen Ausdrucksformen: Eine Gruppe nahm in der «Schreibstube» Blatt und Stift zur Hand. Die andere Gruppe brachte im «Malatelier» die eigene innere Stärke mit Pinsel und Farbe zum Ausdruck.

Die Villa Sträuli in Winterthur mit ihren wunderschönen Räumlichkeiten und ihrer reichen Geschichte war der passende Ort für die Erfahrungsberichte der Betroffenen. Fast 40 ehemalige Verdingkinder und Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen kamen im Rahmen des ersten deutschsprachigen Erzählbistro 2019 zusammen und berichteten über das Gestern und wie sie mit dem Erlebten heute umgehen. Viele erzählten, wer oder was ihnen geholfen hat, die traumatischen Kindheitserlebnisse zu bewältigen – etwa eine verständnisvolle Ehefrau, mit der man eine Familie gründete. Oder das eigene Haus oder ein erblühender Garten, die einem tagtäglich vor Augen führen, dass man es trotz aller Widrigkeiten im Leben geschafft hat, ein Zuhause – auch für andere Menschen – entstehen zu lassen.

Von Sätzen und Bildern

Nach einem feinen Mittagessen und einer hausgemachten Crèmeschnitte startete der Nachmittag mit einem neuen kreativen Programm: Die Gäste hatten die Möglichkeit, entweder weiter zu diskutieren, zu malen oder die eigene Geschichte zu verschriftlichen: In der «Schreibstube» berichteten manche Betroffenen, wie sie die fehlende Schulbildung lange Zeit oder teilweise noch bis heute daran gehindert habe, das Erlebte niederzuschreiben. «Mich überkommt bis heute eine Panik, wenn ich einen Griffel in die Hand nehme», sagte einer der Teilnehmenden.

Doch Rechtschreibung steht nicht im Vordergrund, wenn es um die Konservierung der Geschichten geht, da waren sich alle Anwesenden einig. Sie sprachen sich gegenseitig Mut zu und berichteten, wie sie die anfängliche Scham überwunden hätten, «Ich schreibe heute so, wie mir der Schnabel gewachsen ist», sagte eine der Frauen. Manche der Anwesenden hatten sogar bereits ihre Geschichte veröffentlicht. Andere suchten nach dem richtigen Anfang und wurden dabei unterstützt. Nach wenigen Minuten formierten sich bei ihnen in der «Schreibstube» die ersten Sätze zu einem Ausschnitt einer bewegten Lebensgeschichte.

Im «Malatelier» kreierten Betroffene im Verlaufe des Nachmittages Bilder, welche die eigene Gefühlslage wiederspiegelten. Die Bilder nahmen die Betroffenen ebenso nach Hause, wie das Empfinden, einen spannenden Tag im Kreis von Menschen verbracht zu haben, die einem tatsächlich verstehen.