Vertrauen und Mut gegen die Angst

Die vielen Nachrichten über das Corona-Virus machen manchmal Angst. Angst macht uns aber klein. Deswegen kann es sehr hilfreich sein, der Verunsicherung immer wieder Mut und Vertrauen entgegenzustellen. Es reicht nämlich völlig, wenn wir der Situation wie sie im Moment ist mit Respekt begegnen. 

Unten finden Sie ein Märchen dazu. Märchen, die so oft voller Weisheit sind. 


Wie die Ziege den Löwen in die Flucht schlug


Ein Märchen aus Indien


Quelle: Dietrich, T.  & Strahm, P. illustriert Fürst, B. (2004). Rabenlist und Löwenmut. Tiermärchen aus aller Welt. Sonderband. Herausgeber: Zoologischer Garten Basel. 


Ziegen fressen selten die Kräuter auf ihrer eigenen Weide – lieber die von nebenan. Genau so war auch die Ziege in unserer Geschichte. Sie lief und lief, frass da ein saftiges Kräutchen und da eines … ja sie war eine Feinschmeckerin. Und auf dieser Weise verirrte sie sich einmal. Als sie es endlich merkte, war es bereits Abend und sie war im Wald. 

Sie fürchtete sich aber vor dem Wald und sie fürchtete auch die Nacht und wovor sie sich am meisten fürchtete: Vor wilden Tieren. Zum Glück fand sie eine Höhle.
Glücklich trat sie ein — und stand vor einem Löwen. Sie begann zu zittern und hätte sich am liebsten rückwärts hinaus verzogen. In diesem Falle hätte der Löwe sie aber bestimmt angefallen und getötet. Fliehen konnte sie nicht mehr, das war der Ziege klar. „Wenn mir nun etwas hilft“ dachte sie, „dann eine List! Es bleibt mir nichts anderes übrig, als den Löwen zu erschrecken!“

Sie erinnerte sich an all die kräftigen Kräuter, die sie unterwegs gefressen hatte, plusterte sich auf und lief tapfer auf ihn zu. Der traute seinen Augen kaum. Eine solch mutige Ziege war ihm noch nie begegnet. Er bekam Respekt vor ihr und sagte: «Guten Tag, verehrte Ziege! Wer bist du?» 

Die Ziege atmete tief ein und sagte dann mit ruhiger Stimme: «Ich bin die Königin der Ziegen, endlich habe ich dich gefunden! Bei meiner Krönung habe ich geschworen, dass ich 100 Tiger, 25 Elefanten und 10 Löwen fressen werde. Die Tiger und die Elefanten habe ich schon gerissen, du jedoch bist der erste Löwe, der mir über den Weg läuft. Endlich habe ich einen!»

Der Löwe erschrak, begann zu zittern und hätte sich am liebsten aus dem Staub gemacht. „Sie wird mich anfallen und fressen“ dachte er, „und fliehen kann ich nicht mehr, dafür ist es zu spät. Wenn mir nun noch etwas helfen kann, dann eine List!“

«Liebe Königin der Ziegen. Ich bin so schmutzig, so unappetitlich. So kannst du mich nicht fressen. Ich will mich am Fluss unten waschen, damit ich ein würdiges Opfer sein darf.»

Die Ziege erlaubte es ihm und liess ihn hinaus. Draussen aber rannte er davon, bis er erschöpft zusammenbrach. Da kam der Schakal, sah ihn und fragte erstaunt: “Löwe, was ist geschehen, du rennst ja als ob es um dein Leben gehen würde?“

«Ein schreckliches Tier ist mir begegnet», sagte der Löwe, «es sieht wie eine Ziege aus, hat aber grünere Augen, längere Hörner und einen weisseren Bart, und … das Schlimmste, es frisst – Löwen. Nur dank meiner List konnte ich fliehen.» Der Schakal durchschaute die Geschichte, begann zu lachen und sagte: «Komm, wir gehen zurück zum Löwenfresser. Zu zweit sind wir stärker und können das Ungeheuer überwältigen und es zerreissen.» Der Löwe zögerte, doch er liess sich überreden und ging mit dem Schakal zur Ziege zurück.

Die erkannte die Gefahr und liess sich wieder etwas einfallen. Mit lauter Stimme ruft sie dem Schakal zu: «Ein einziger Löwe, mein Freund Schakal, nur einer bringst du mir! So unzuverlässig führst du meine Befehle aus! Zehn Löwen habe ich verlangt, nicht nur einen! Mach dich sofort wieder auf die Suche!» Der Löwe glaubte wiederum der Ziege, warf den Schakal mit einem unsanften Prankenschlag zur Seite und floh.

Endlich konnte die Ziege die Höhle verlassen und nach Hause gehen!

Von diesem Tag an entfernte sie sich nicht mehr so weit von ihrer Wiese… oder nur noch ganz, ganz selten. 


Gedanken zum Märchen 

von Gisela Bolliger, Märchenerzählerin für Erwachsene


Es ist ein Märchen und natürlich ist diese Geschichte mit der Ziege und dem Löwen nie passiert. Ich wage aber trotzdem zu behaupten, dass ein bisschen Wahrheit darin steckt.
Mir fallen Menschen ein, die eher unscheinbar wirken, denen niemand Grosses zutraut, die aber Grossartiges leisten. Menschen, die trotz Widrigkeiten ihren Weg gehen und ihr Ziel erreichen, obwohl es ihnen niemand zugetraut hätte. 

Wenn ich eine schwierige Situation bewältigen muss, erzähle ich mir dieses Märchen manchmal selber, einfach um mich dran zu erinnern, auf was es jetzt ankommt. Erst Mal gut durchatmen, mich an meine Kraft erinnern und dann den ersten, mutigen Schritt wagen – vielleicht ist es sogar nötig ein wenig listig zu sein. 

Im Moment ist die Verunsicherung gross und wir alle brauchen Mut und Zuversicht. Ich wünsche mir, dass dieses kleine Märchen auch Ihnen ein wenig hilft, diese Situation, die nicht unserem gewohnten Alltag entspricht, zu überbrücken.

Später, wenn alles vorüber ist, kommt wieder die Zeit mit den saftigen Gräser und Kräuter. Wir werden das Leben wieder geniessen und ab und zu sogar wieder an einem Kräutchen von nebenan knabbern.