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Die Guido-Fluri-Stiftung, Urheberin der Wiedergutmachungsinitiative, versammelte am Samstag in Thun die letzten Zeitzeuginnen und Zeitzeugen fürsorgerischer Zwangsmassnahmen. Der Erfolg war überwältigend: Mehr als 800 Verdingkinder und andere Missbrauchsopfer nahmen teil, ebenso wie viele prominente Gäste, darunter auch Bundesrat Beat Jans. Dieser betonte, dass die Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels Schweizer Geschichte inzwischen in ganz Europa auf Beachtung stösst. Tatsächlich hat der Europarat erst vor wenigen Wochen eine Aufarbeitung der Missbrauchsfälle in den Mitgliedstaaten nach Schweizer Vorbild beschlossen.

Vor allem Menschen, die den früheren gesellschaftlichen und moralischen Wertvorstellungen nicht entsprachen, arm oder randständig waren, wurden Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen. So wurden Zehntausende Kinder auf Schweizer Bauernhöfen verdingt, in Heimen missbraucht oder misshandelt, zwangsadoptiert und wirtschaftlich ausgebeutet.

Das grösste Treffen ehemaliger Verding- und Heimkinder fand am Samstag in Thun statt. Dabei zeigt sich, dass die Überlebenden aufgrund der kollektiven Aufarbeitung heute ein neues Selbstbewusstsein erlangt haben: «Über Jahrzehnte wurde das Unrecht an den Verdingkindern und anderen Opfern verschwiegen und begangene Unrecht von Gesellschaft und Politik tabuisiert», so Guido Fluri, der Urheber der Wiedergutmachungsinitiative. «Heute ist ihre persönliche Geschichte ein integraler Teil der Schweizer Geschichte, der nicht mehr geleugnet oder verschwiegen wird. Sie sind heute keine Opfer mehr, sie sind Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, Vorbilder für die Generation von heute und die Generation von Morgen.» Die Wiedergutmachungsinitiative hat im Parlament zu einem Gegenvorschlag und damit zu einer umfassenden Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen geführt: Heute haben rund 12 000 Betroffene eine offizielle Anerkennung für das erlittene Leid sowie einen Solidaritätsbeitrag erhalten. Die Geschichte der Zwangsmassnahmen wurde über ein Nationalfondsprojekt wissenschaftlich aufgearbeitet.

Bundesrat Beat Jans betont, dass die Schweizer Aufarbeitung heute Vorbild in Europa sei

Bundesrat Beat Jans, der Vorsteher des Justiz- und Polizeidepartements, betonte in seiner Rede die Bedeutung der öffentlichen Anerkennung, der Aufarbeitung und auch der Solidaritätsbeiträge: «Die grosse Anzahl ehemaliger Verdingkinder und Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen hier am Sommerfest zeigt eindrücklich, dass Gesetze Gutes bewirken können. Ich kann Ihnen sagen: Das ist für einen Justizminister eine sehr wohltuende Feststellung.  Was in den letzten Jahren geschehen ist, zeigt: Unser Rechtsstaat ist alles andere als perfekt. Aber er bietet uns auch die Chance, ihn zu verbessern.» Für Bundesrat ist es elementar, dass die Betroffenen ihre Lebensgeschichten immer und immer wieder in die Öffentlichkeit tragen. Sie würden damit ein Bewusstsein für Unrecht schaffen, in der Schweiz, aber auch in Europa, wo man nun ebenfalls die Aufarbeitung der eigenen Missbrauchsfälle an die Hand nehme. Im Januar hat die parlamentarische Versammlung des Europarats, dem 46 Staaten mit über 600 Millionen Bürger angehören, für die Aufarbeitung der früheren Missbrauchsfälle nach dem Vorbild der Schweiz gestimmt. Dazu meinte Bundesrat Jans gegenüber den Schweizer Überlebenden: «Ihrem Mut ist es zu verdanken, dass wir heute in der Schweiz ein Gesetz haben, das in ganz Europa als Vorbild gilt. Der Europarat, Hüter der Menschenrechte, empfiehlt seinen 46 Mitgliedsstaaten, frühere Missbrauchsfälle nach Schweizer Vorbild aufzuarbeiten. Ein schöner Erfolg! Ihr Erfolg! Ein Erfolg, der auch ganz vielen Menschen in anderen Ländern zugutekommt.» Bundesrat Jans lobte in diesem Zusammenhang das Engagement der Guido Fluri Stiftung, welche nach der Schweiz auch in Europa für eine Aufarbeitung kämpft.

Gemäss Europarats-Entscheid soll das Leid der Überlebenden von Kindsmissbrauch in den Mitgliedstaaten offiziell anerkannt werden, die Betroffenen sollen – unabhängig einer allfälligen Verjährung – eine Wiedergutmachungszahlung erhalten und eine wissenschaftliche Aufarbeitung soll in jedem einzelnen Land stattfinden. Die bahnbrechenden Empfehlungen des Europarats entsprechen den Forderungen der europäischen «Justice Initiative», welche von Guido Fluri zusammen mit Kinderschutzorganisationen und Opfergruppen aus ganz Europa lanciert worden war.

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